7 Mythen über die Piktogramme

Kindererziehung ist etwas, über das jeder eine Meinung hat. Alle haben eine Meinung dazu, was gute Eltern sind, machen und machen sollten. 

In diesem Zusammenhang gibt es einige Mythen über verschiedene Arten von Kindererziehung und damit auch eine Reihe von Mythen über die Nutzung von Piktogrammen mit neurotypischen Kindern (also Kinder ohneEinschränkungen). Ich habe einige der Mythen hier gesammelt und werden nun versuchen sie zu bestätigen oder zu widerlegen. Außerdem werde ich darüber schreiben, wofür Piktogramme nützlich sind und wozu sie eher ungeeignet sind.

Wenn du keine Lust hast, alles zu lesen (ich weiß, es ist viel!), dann schaue dir die wichtigsten Punkte unten an.

 

  1. Mythos: Das Bedürfnis nach Piktogrammen ist ein Zeichen dafür, dass Kinder und Kinderfamilien heutzutage zu gestresst sind.

Falsch – das Bedürfnis, Piktogramme mit kleineren Kindern zu nutzen hat nichts mit dem Stressniveau der Familie zu tun. Piktogramme zu nutzen erfordert, dass es um das Kind ruhig ist und es Zeit dafür gibt, dass sowohl Eltern als auch Kinder sich an die Nutzung von Piktogrammen gewöhnen können. Wenn die Piktogramme in einer gegebenen Situation gut integriert sind, hilft deren Nutzung jedoch, die entsprechende Situation für Kinder und Eltern stressfreier zu machen.

 

  1. Mythos: Das Bedürfnis nach Piktogrammen besteht, da Kinder heutzutage „zu viel auf dem Programm“ haben

Falsch – wie viel eine Familie im Alltag „auf dem Programm“ hat, hat nichts mit dem Bedürfnis nach Piktogrammen zu tun. Piktogramme sind ein Werkzeug, welches Familien wählen können, um dem Kind neue Kompetenzen beizubringen und um diesem eine größere Beteiligung, mehr Mitverantwortung und Selbstständigkeit zu geben. Die Anwendung von Piktogrammen ist nicht als Werkzeug gedacht, das relevanten Dialog und Erwachsenenleitung erstatten soll, oder sogar, um weitere Aktivitäten in den Alltag zu pressen.

 

  1. Mythos: Wenn man als Eltern konsequent die gleichen Routinen befolgt, muss man keine Piktogramme nutzen, damit das Kind weiß, was der nächste Schritt ist.

Richtig – wenn es um neurotypische Kinder mit Super-Eltern geht, welche extrem gut dabei sind, Routinen zu integrieren und festzuhalten, dann braucht man streng genommen keine Piktogramme. ABER – die meisten Eltern mit kleinen Kindern (das wage ich zu behaupten!) finden es schwierig, neue Routinen mit ihren Kindern einzuarbeiten. Keine Eltern sind perfekt und die meisten kennen die stressigen Situationen am Morgen, wenn man etwas zu lange geschlafen hat, vergessen hat, die Wäsche aus der Waschmaschine zu nehmen oder das Pausenbrot am Abend zuvor zu schmieren, wenn die Kinder extra müde sind oder man seine Schlüssel nicht findet oder was noch so alles schief gehen kann am Morgen. Solche Situationen am Morgen kenne ich auf jeden Fall (alle), wieso sollte man den Alltag also für die Eltern nicht etwas einfacher machen, indem man den Kindern etwas Mitverantwortung gibt? Und es geht hier natürlich um Verantwortung, zu der das Kind weit genug entwickelt und reif genug ist. Piktogramme zu nutzen kann dabei unterstützen, das Kind in die Routinen der Familie zu integrieren – und wenn sie dem Alltag helfen, wieso sollte man sie also nicht nutzen?

  1. Mythos: Piktogramme helfen nur in konkreten Situationen, in denen sie Anwendung finden und geben weder Kindern oder Erwachsenen „Werkzeuge“ ähnliche Situationen zu meistern.

Richtig und falsch – Es ist richtig, dass Piktogramme hauptsächlich in der Situation helfen, in der sie angewandt werden. Deshalb ist die Absicht mit Piktogrammen auch, dass man sie in schwierigen Situationen anwendet oder in Bereichen, in denen man viele Konflikte hat, z.B. zur Schlafenszeit und in Situationen, in denen man gerne etwas „extra Hilfe“ haben möchte, um die Situation für Eltern und Kind gut zu lösen.

Der Mythos ist auch falsch in dem Sinne, dass die Kompetenzen, welche das Kind mit den Piktogrammen erlernt, sehr wohl auf andere Situationen außerhalb des Hauses übertragen werden können. Ein Beispiel ist das Anziehen. Wenn die Familie über eine Periode Piktogramme angewandt hat, welche dem Kind beim Anziehen helfen, wird das Kind das Erlernte mit sich nehmen, sodass das Anziehen z.B. im Kindergarten oder beim Turnen einfacher wird. Das Kind lernt generell auch bei der Nutzung von Piktogrammen, dass Aktivitäten gut in kleinere Schritte aufgeteilt werden können, damit diese besser überschaubar werden. Das ist eine Erkenntnis, die das Kind mit sich nehmen kann, wenn es in die Schule geht und dort „Probleme“ löst. Generell lernt das Kind Selbstständigkeit und Selbstkontrolle, welche auch Kompetenzen sind, die in allen Lebensbereichen nützlich sind.

 

  1. Mythos: Piktogramme sind eine große Hilfe für Kinder mit neurologischen Schwierigkeiten, wenn diese aber bei neurotypischen Kindern Anwendung finden, bringen sie mehr Schaden als Nutzen.

Falsch – Piktogramme sind ein allgemeines pädagogisches Werkzeug, die in vielen Kindergärten und Grundschulen angewandt werden. Wenn Sie Ihr Kind also zu Hause in Piktogramme einlernen und zusammen deren Anwendung üben, helfen Sie Ihrem Kind beim Schulstart, wenn es Piktogramme bereits kennt. Das Selbstbewusstsein und der Selbstwert des Kindes werden außerdem gestärkt, wenn es dem Alter entsprechende Mitverantwortung in der Familie bekommt.

(*Lesen Sie eventuell unten über Vorteile bei der generellen Nutzung autismusspezifischer Pädagogik mit neurotypischen Kindern).

 

  1. Mythos: Die Anwendung von Piktogrammen ist eher eine äußere als eine innere Tätigkeit, und ist daher nicht wünschenswert.

Richtig und falsch – Es ist richtig, dass Piktogramme extern leiten, aber das bedeutet nicht automatisch, dass die Anwendung von Piktogrammen deshalb nicht wünschenswert ist. Die beiden Aussagen haben nichts miteinander zu tun und sind daher auch falsch.

Es ist so, dass kleinere Kinder die Fähigkeit zur inneren Tätigkeit noch nicht entwickelt haben und daher extern z.B. durch Eltern geleitet werden sollen. Piktogramme können als Hilfe zur schrittweisen inneren Tätigkeit genutzt werden. Natürlich ist das Ziel, dass das Kind die innere Tätigkeit und die innere Motivation beherrscht, aber es ist unrealistisch zu denken, dass kleine Kinder dies können – es ist stattdessen etwas, das schrittweise, im Takt mit der Entwicklung des Gehirns, erlernt werden muss. Und diese Lehre geschieht nur, wenn die äußere zur inneren Tätigkeit verwandelt wird, denn wie der russische Psychologe Lex Vygotsky sagte: „Es gibt keine innere Struktur, welche nicht zuerst außen war“. Es ist also unsere Aufgabe als Eltern, dem Kind zu helfen, indem wir eine äußere Struktur anbieten, durch Erwartungen, Erziehung und Werte, die das Kind schrittweise internalisieren kann, während es älter wird. Die Nutzung von Piktogrammen kann in mancher Hinsicht dabei helfen, eine Brücke zwischen äußerer und innerer Tätigkeit zu bilden. Und nein, natürlich kann die Nutzung von Piktogrammen die gegenwärtigen Eltern nicht ersetzen, die sich als gute Vorbilder herausstellen sowie Werte und Normen zur Verfügung stellen, die das Kind als seine eigenen übernehmen kann. Aber eine korrekte Anwendung von Piktogrammen kann einige dieser Elemente erleichtern – und wieso sollte man es für Kinder und Eltern nicht so einfach wie möglich machen?

 

  1. Mythos: Die Nutzung von Piktogrammen „riecht“ nach autoritärer Erziehung

Falsch – Piktogramme sind kein unflexibles Werkzeug oder fester Plan, den man dem Kind „aufzwingt“- Es ist eher ein Dialogwerkzeug, welches man gemeinsam mit dem Kind anwenden kann. Dieser Mythos beinhaltet auch einen weiteren Mythos über Kindererziehung, dass es einen unvergleichlichen Gegensatz zwischen autoritärer und laissez faire-Erziehung gibt. Aber dieses Entweder-oder-Verständnis ist falsch, denn ich bin überzeugt, dass keines der beiden alleine stehen kann. Es sollte ein Gleichgewicht zwischen der Anpassung des Kindes an die Umwelt und der Befreiung von der Umwelt entstehen (evtl. auch gegenüber äußerer- und innerer Leitung). Wenn die Piktogramme richtig angewandt werden, tragen sie zu einem flexiblen Erziehungsstil bei, da die Piktogramme einerseits dem Kind Mitbestimmung und Mitverantwortung geben und sie dem Kind Selbstständigkeit und Selbstregulierung (also Befreiung) beibringen, gleichzeitig lernt das Kind, dass manche Sachen/Aktivitäten/Pflichten nicht verhandelbar sind (also Anpassung).

 


Zusammenfassung:

  • Piktogramme können die Erlernung neuer Kompetenzen vereinfachen.
  • Piktogramme helfen, dem Kind entsprechend seiner Entwicklung Mitbestimmung und Mitverantwortung zu geben.
  • Piktogramme können in Situationen helfen, die etwas schwieriger sind oder die oft zu Konflikten führen.
  • Piktogramme sind ein pädagogisches Werkzeug, das in vielen Kindergärten und in der Grundschule genutzt wird. Wenn das Kind sie also bereits von zu Hause kennt, erleichtert das den Schulstart.
  • Das Selbstbewusstsein und der Selbstwert des Kindes werden gestärkt, wenn es sich durch altersgerechte Mitverantwortung als gleichwertiges Mitglied der Familie fühlt.

Mit besten Grüßen

 Ina Victoria Haller
Autorisierte Psychologin

*Mehrere Untersuchungen weisen darauf hin, dass alle Kinder (neurotypische sowie die mit besonderen Bedürfnissen) von einer Schulumgebung profitieren, in der autismusspezifische Pädagogik angewandt wird. Bei einer dänischen Langzeitstudie wurde u.a. herausgefunden, dass in den Klassen, in denen Nest (ein Schulprogramm, bei dem Kinder mit und ohne besondere Bedürfnisse durch eine Pädagogik unterrichtet werden, welche Kinder mit Autismus-Spektrum-Störung berücksichtigt) angewandt wurde, alle Kinder (mit und ohne besondere Bedürfnisse) ruhiger wurden und in weniger Konflikten gerieten. Gleichzeitig sah man, dass die Struktur, Vorhersagbarkeit und Unterstützung zur Selbstregulierung, die das Nest-Prinzip bietet, bewirkten, dass die Kinder ihre Energie stattdessen zur Lösung von fachlichen Aufgaben nutzten. Insbesondere die erhöhte Strukturierung am Morgen wurde als wirksame Änderung empfunden (Bjergø & Kromann, 2019). Natürlich ist Struktur und Vorhersagbarkeit nur ein kleiner Teil des Nest-Programmes und von dieser Studie kann nichts in Verbindung zu der Nutzung von Piktogrammen zu Hause konkludiert werden, aber durch die Anwendung von autismusspezifischer Pädagogik werden unmittelbar nur positive Effekte für Kinder (mit und ohne besondere Bedürfnisse) gesehen.

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